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AutomotiveFallbeispiel

Frank Houdek: Anforderungsmanagement bei Mercedes-Benz

Wie geht ein Konzern wie Mercedes-Benz mit Anforderungen um? Zu diesem Thema hat Dr. Frank Houdek am vergangenen Montag einen öffentlichen Vortrag gehalten. Im Folgenden einige interessante Einblicke zu dem Thema aus dem Vortrag, gefüllt mit harten Fakten und Zahlen.

Dr. Frank Houdek ist nicht nur „Manager Basistechnologieabsicherung, Testmethodik, Requirements Engineering“ bei Mercedes-Benz; er ist auch Gründungsmitglied des IREB e.V. und mit jahrzehntelanger Erfahrung hochqualifiziert, sich zu dem Thema zu Wort zu melden.

Bei der Entwicklung von komplexen Systemen müssen Tausende von Ingenieuren in der Entwicklung koordiniert werden. Dabei spielt das Requirements Engineering eine dominante Rolle und gehört zu einer der kritischsten Phasen in der Systementwicklung.

Riesige Datenmengen

Ein modernes Fahrzeug ist ein hochkomplexes System, welches aus Hunderten von Komponenten besteht. Daher ist bei Mercedes kein Lastenheft kleiner als 25 Seiten, manche bestehen aus bis zu 1.500 Seiten. Oder in DOORS-Objekten ausgedrückt, haben wir es mit 1.000–50.000 Elementen zu tun, ein Großteil davon sind Anforderungen.

Doch nicht alle Elemente sind Anforderungen. Spezifikationen enthalten auch Informationen, Predefinitionen, Überschriften und vieles mehr. Bei Mercedes sind ca. 70% aller Elemente Anforderungen. Im Vortrag wurde auch Testen angesprochen. Nur ca. 60% der Anforderungen sind testrelevant.

Ca. 70% aller Elemente sind Anforderungen. Ca. 60% aller Anforderungen sind testrelevant.

Damit noch nicht genug: Schließlich stehen nicht alle Anforderungen in Lastenheften. Lieferanten müssen noch 30-300 mitgeltende Unterlagen berücksichtigen. Mercedes führte 2013 eine Untersuchung zu diesem Thema durch. Dabei kam heraus, das sich die Unterlagen, mit allen Referenzen, auf bis zu 50.000 Seiten akkumulieren. Knapp ein drittel davon ist Mercedes-Benz-spezifisch, der Rest folgt aus Standards und anderen Quellen.

Keine Pflichtenhefte

Typischerweise antwortet ein Zulieferer mit einem Pflichtenheft auf die Anforderungen des Kunden, die im Lastenheft stehen. Doch bei einer derartigen Flut von Anforderungen sieht Mercedes dieses Vorgehen nicht als praktikabel an. Statt dessen muss der Zulieferer das Lastenheft von Mercedes bewerten. Dazu setzt der Zulieferer einfach nur einen Status, gegebenenfalls mit Kommentaren ergänzt.

Der Datenaustausch mit dem Lieferanten wird inzwischen auch mit dem Requirements Interchange Format (ReqIF) durchgeführt, an dessen Standardisierung ich auch mitgewirkt habe. Der Anwendungsfall der Lastenheftbewertung wurde übrigens bei der Entwicklung des ReqIF-Standards explizit berücksichtigt.

Werkzeuge

Interessant fand ich, dass bei Zulieferern, die das „klassische“ DOORS einsetzen, Mercedes mit dem proprietären DOORS Exchange arbeitet, statt ReqIF. Das ist durchaus nachvollziehbar, da dieser im Vergleich zu einem DOORS-zu-DOORS-ReqIF-Austausch performanter ist. Mich überraschte eher, dass DOORS (klassisch) immer noch so weit verbreitet ist, anscheinend auch bei den Lieferanten.

Die Einführung von Tool-Gestütztem Requirements Engineering bei Mercedes-Benz lief über 12 Jahre

Die Einführung von Werkzeugen in Konzernen ist nun einmal eine langwierige Angelegenheit. Herr Houdek zeigte dies am Beispiel des werkzeuggestützten Requriements Engineering mit Classic DOORS. Die ersten Pilotprojekte begannen im Jahr 2000. Der Einsatz in der Breite begann 2004, 2007 folgte dann der Rollout in der Mechanik. Erst 2012 hatte Mercedes eine vollständige Durchdringung. Zur Zeit führt Mercedes DOORS Next als Nachfolger ein.

Nur punktuelle Modellierung

Selbstverständlich setzt Mercedes auch Modellierung ein, doch der größte Teil der Anforderungen wird nach wie vor in natürlicher Sprache formuliert. Die Basis dazu ist eine umfangreiche Lastenheft-Vorlage. Ein großer Teil der Spezifikationen ist in deutsch geschrieben. Zum einen liegt das daran, dass Deutsch oft die verbindliche Vertragssprache ist. Zum anderen soll dies auch die deutschsprachige Kollegen entlasten. Oft begleitet ein automatisch übersetztes englisches, nicht verbindliches Lastenheft das deutsche.

Bei den Anforderungstexten geht Mercedes pragmatisch vor: Auf Textschablonen wird verzichtet, Tabellen, Abbildungen, etc. sind erlaubt, wo es Sinn macht.

Mercedes hat aus offensichtlichen Gründen das Automatisierungspotential beim Arbeiten mit textuellen Anforderungen untersucht. Die Analyse von 130.000 Anforderungen zeigte, wo NLP (Natural Language Processing) Probleme automatisiert erkennen kann (NLP ist eine Teildisziplin der KI). Diese Techniken sind effektiv, wenn es um die Präzisierung von Anforderungen geht, zum Beispiel durch das Identifizieren von Weak-Words oder der Verbesserung der Grammatik. Bei Prüfungen vom Passiv oder mehrdeutigen Beziehungen hingegen eher nicht, jedenfalls noch nicht.

Explodierende Variantenvielfalt

Auch zum Thema Varianten hatte Herr Houdek interessante Zahlen. Als Beispiel nannte er eine Analyse von knapp 200.000 Fahrzeugen. Etwa ein Drittel davon hatten einen Leitungssatz (Kabelstrang), den kein anderes Fahrzeug hatte: Es waren Unikate.

Ein Drittel der Kabelstränge von 200.000 Fahrzeugen waren Unikate

Die Hauptgründe für diese Art der Optimierung sind Kosten und Gewicht. Schließlich erhöht ein verbautes aber nicht verwendetes Kabel beides. Doch das kann sich nur ein Hersteller leisten, der diese Vielfalt beherrscht.

Bei dem Beispiel eben ging es um Varianten in der Produktion. In der Entwicklung müssen wir zum Glück nicht jeden möglichen Kabelstrang spezifizieren. Um mögliche Variantenkonflikte auszuschließen und sicher mit Varianten umgehen zu können, setzt Mercedes das Werkzeug Pure Variants ein.

Fazit

Es ist nicht immer leicht, über den eigenen Tellerrand zu schauen um herauszufinden, wie woanders gearbeitet wird. Und selbst dann sind Vorträge und Berichte oft vage und allgemein gehalten. Umso erfrischender, einen Vortrag zu hören, der mit so vielen harten Fakten und Zahlen gefüllt ist wie der von Herrn Houdek.

Photo by Oliur on Unsplash

Michael Jastram

Creator and Author of SE-Trends