Entlassungen bei Cariad: Was ist schiefgegangen?
Als erstes: Alle Menschen, die ich bei Cariad kenne, sind mit Herz und Seele dabei. Insofern tut es mir für besonders für diese Menschen leid, dass Cariad nun Entlassungen aussprechen muss. Bis zu 2000 Mitarbeiter sollen gehen, das sind ca. 30% der Belegschaft.
Die Vision war groß: Cariad sollte eine Softwareplattform für Fahrzeuge entwickeln, die von allen Marken des VW-Konzerns genutzt werden sollte. Die für 2022 geplante Fertigstellung der Version 1.2 hat sich verzögert, jetzt kommt die Entlassungswelle. Was ist schiefgegangen?
Schnell aus dem Boden gestampft
Cariad wurde 2019 zunächst VW-intern aufgebaut. Seit 2020 ist Cariad eine eigenständige Geschäftseinheit. Auch den Namen Cariad gibt es erst seit 2021. Er steht für: „CAR, I Am Digital“. Laut VDI-Nachrichten hat der Vorstand nun Entlassungen beschlossen.
Die Ambitionen von Cariad waren von Anfang an enorm: In kürzester Zeit wurde eine Organisation von 6000 Mitarbeitern aufgebaut, die eine hochkomplexe Softwareplatform bereitstellen sollten. Christian Müller erinnerte auf LinkedIn an Brooks Law:.
Laut Brooks Law werden Projekte umso langsamer, je mehr Menschen beteiligt sind. Cariad ist innerhalb kürzester Zeit auf 6.000 Mitarbeitende angewachsen. Eine Skalierung in diesem Ausmaß schafft eine kaum beherrschbare Komplexität. Ineffizienzen und Verzögerungen sind vorprogrammiert.
Christian Müller
Ist das Systems Engineering?
Die Idee, eine Organisation außerhalb des VW-Konzerns aufzubauen, ist nachvollziebar. Die klassischen Architekturen für Fahrzeuge unterscheiden sich drastisch von dem, was heute benötigt wird (Stichwort Software-Defined Vehicle). Da scheint es naheliegend, von diesen Architekturen Abstand zu nehmen und „auf der grünen Wiese“ neu und sauber aufzusetzen.
Aber so ein Denken vernachlässigt, dass wir am Ende am Gesamtsystem interessiert sind, also dem Fahrzeug. Bei so einem Ansatz fehlt der integrative Ansatz des Systems Engineering. Wenn die Weg zum Gesamtsystem zu lang sind, dann wird es in der Integrationsphase knallen. Auch hier ein Zitat aus der LinkedIn-Diskussion, diesmal von Stephan Roth:
Transdisziplinär bedeutet, dass die Grenzen (Silos) zwischen den Ingenieursdisziplinen (Konstruktion und Mechanik, Electrical Engineering, Software, etc.) aufgelöst werden und alle Engineering-Aktivitäten als miteinander verschmolzene, gemeinschaftliche und integrative Tätigkeiten verstanden werden müssen. Im Grunde genommen legt INCOSE damit den Gegenentwurf zur klassischen, tayloristischen Organisation mit hierarchischen Strukturen nahe
Stephan Roth
Vor diesem Hintergrund ist und war die Ausgliederung der Softwareentwicklung in Form von CARIAD ein Organisations-Anti-Pattern.
Wie machen es die anderen?
Bei der Untersuchung nach neuen Ansätzen wird oft Tesla erwähnt, zu Recht. Auch wenn das Unternehmen (und dessen exzentrischer Boss) die Angewohnheit hat, maßlos zu übertreiben, so liefert Tesla dennoch konkrete Ergebnisse. Insbesondere hat Tesla neue Paradigmen eingeführt, die der Idee des Softwaredefinierten Fahrzeugs folgen.
Dieser Ansatz wird inzwischen von vielen Unternehmen kopiert, insbesondere auch in China. Ein bekanntes Gesicht diesbezüglich ist Joe Justice, der schon vor vielen Jahren das Konzept von Extreme Manufacturing eingeführt hat, und heute übrigens Mercedes-Benz berät.
Schön formuliert Sylvius Gerber auf LinkedIn, was Tesla anders macht:
[Wie haben es Tesla und andere geschafft?] Grüne Wiese und Hardware um die Software herum gebaut. Die deutschen Autobauer machen es genau andersherum und haben alle die Dinge aus der Vergangenheit und die Interessensgruppen die sie am echten Fortschritt hindern.
Sylvius Gerber
Was nun?
Bei LinkedIn meldet sich Carsten Pitz zu Wort mit dem Wunsch, dass die Entlassungen bei Cariad die „richtigen“ 30% treffen. Doch weder die anderen Diskussionsteilnehmer noch ich glauben, dass dies reichen wird. Oder überhaupt der richtige Weg ist.
VW muss sich trauen! Eine Softwareplattform zu entwickeln ist zum einen halbherzig, zum anderen (wie Stephan Roth sagte) ein Anti-Pattern. Statt dessen müsste das Fahrzeug in wenige große Komponenten mit klar definierten Schnittstellen zerlegt werden, so wie Joe Justice das mit Wikispeed vorgelebt hat. Das bedeutet aber auch, dass jede dieser Komponentengruppen Autonomie hat, auch bei der Software.
Unternehmen wie Ree verstehen das und fokussieren sich auf eine solche Komponente und produzieren nur das Chassis.
Eine weiteres Thema ist das Kern-IP eines Unternehmens. VW ging fälschlicherweise davon aus, dass dies die Software sei. Doch auch hier hilft wieder der Blick auf andere Unternehmen. In einem softwaredefinierten Produkt gehört die Microchips mit dazu. Daher entwickeln Apple, Tesla und viele andere Unternehmen inzwischen ihre eigenen SoCs (System-on-a-Chip).
Was hier passiert ist ein Drama, denn VW ist ein für Deutschland wichtiger Konzern. Doch der Konzern hat eine jahrhundertealte Ingenieurkultur. Damit ist natürlich das mechanische Ingenieurwesen gemeint, nicht Softwareentwicklung. Eine Kultur kann man nicht mal eben ändern, auch nicht durch einen separaten Standort.
Ich würde mich sehr freuen, wenn Cariad und VW es noch schaffen, das Ruder herumzureißen. Das wäre ein Gewinn für die Menschen dort und den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Bildquelle: Cariad Pressekit