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Große ALM-Vision: PTC kauft Pure Systems

PTC scheint aktuell auf Einkaufstour zu sein: Nachdem letztes Jahr die Akquisition von Codebeamer Schlagzeilen gemacht hat, ist nun Pure Systems dran. Damit hat sich PTC ein Produkt für Variantenmanagement für ALM ins Portfolio geholt, und zwar eines, das skaliert.

Was bedeutet das für den Werkzeugmarkt für die Entwicklung komplexer Produkte? Dazu im Folgenden eine Analyse und ein bisschen Spekulation.

PTC: Ein klassisches Portfoliounternehmen

PTC hat sich auf die Entwicklung von Softwarelösungen für das Product Lifecycle Management (PLM) spezialisiert. Als PTC in den 1980ern begann, ging es primär um Hardwareentwicklung, 3D-CAD-Design sowie Stücklistenverwaltung (Bill of Materials, BOM). Mit dem Einzug von immer mehr Software in Produkte hat sich PTC entsprechend angepasst. Dazu gehörte zum Beispiel die Neuorientierung zum Internet der Dinge (IoT) durch die Akquisition von Thingworkx in 2013.

Ziel von Portfoliounternehmen ist es, durch die Integration Kunden eine nahtlose Verbindung der Werkzeuge im Portfolio bereitzustellen. Weiterhin kommen neue Werkzeuge öfter durch Akquisitionen ins Portfolio als durch Eigenentwicklungen. Das funktioniert mal besser, mal schlechter. Eine der Konsequenzen von diesem vorgehen ist, dass die durchgeführten Akquisitionen Aufschluss über die Ziele des Unternehmens geben.

Pure Systems: Hidden Champion in Variantenmanagement

Deutschland ist für deren Hidden Champions bekannt, also relativ unbekannte Unternehmen, die in ihrer Branche Marktführer sind. Pure Systems fällt in diese Kategorie beim Thema Varianten- oder Produktlinienmanagement.

Über die vergangenen Jahren hat dieses Thema an Bedeutung gewonnen. Viele Werkzeuge für die Produktentwicklung bieten hier Lösungen an. Allerdings orientieren sich Lösungen oft am Konfigurationsmanagement aus der Softwareentwicklung. Das bedeutet Wiederverwendung entweder in der Form von „Branching and Merging“ oder das mehrfache Referenzieren von Elementen. Das sind pragmatische Ansätze, die für ein paar Dutzend Varianten funktionieren, nicht jedoch für tausende oder mehr.

Pure Systems setzt auf Feature Models, die ganz anders skalieren. Weiterhin unterstützt das Produkte Pure Variants eine große Anzahl von Interrogationen. Für die von PTC verfolgten Ziele ist das relevant, wie wir gleich sehen werden.

Microsoft will KI, was will PTC?

Als Microsoft in 2018 gitHub kaufte, fragten sich viele Analysten, was der Konzern mit einer Open Source-Plattform möchte. Inzwischen kennen wir die Antwort: Microsoft brauchte KI-Trainingsdaten, um entsprechende Produkte anbieten zu können. Inzwischen ist daraus das Produkt „Copilot“ geworden.

Das Charmante (für Microsoft) bei der gitHub-Akquisition ist die Tatsache, dass keine Anwendungen integriert werden mussten. Es ging um die Daten, nicht um Benutzeroberflächen oder Integrationen.

In der Geschichte von Software-Akquisitionen gibt es zahllose Beispiele, wie drastisch eine Werkzeugintegration nach hinten losgehen kann.

Dominanz in ALM

PTC spricht in deren Presserklärung offen aus, warum der Konzern Pure Systems gekauft hat: Um das führende Unternehmen im Bereich ALM (Application Lifecycle Management) für sicherheitskritische und regulierte Branchen zu werden. Oder, wie PTC es natürlich darstellen muss, deren Vorherrschaft zu zementieren. Dabei betont PTC, dass sich Codebeamer und Pure Variants gegenseitig ergänzen.

Die Übernahme unterstreicht die führende Rolle von PTC im Bereich ALM in der Automobilindustrie, der Medizintechnik, der Luft- und Raumfahrt und anderen sicherheitskritischen und regulierten Branchen.

PTC Presseerklärung

ALM bezieht sich traditionell auf Software. PTC bricht explizit mit dieser Definition, indem der Konzern explizit komplexe Produkte mit physischen Komponenten mit einbezieht. Damit folgen sie dem Trend der „softwaredefinierten Produkte“. Dabei handelt es sich um den Trend, Produkte primär über die Software zu definieren und zu konfigurieren. Wir sehen diesen Trend in der Fahrzeugtechnik, getrieben von Tesla. Die Produkte (Fahrzeuge) unterscheiden sich kaum oder gar nicht in der Hardware, Features werden per Software freigeschaltet. Diese Idee wird als offenes Projekt von Eclipse Software Defined Vehicle (SDV) verfolgt.

Digitale Transformation konsequent zu Ende gedacht

Doch auf der PTC-Webseite geht es nicht (direkt) um ALM, sondern um die Digitale Transformation im Unternehmen. Dabei sieht PTC insgesamt sechs Bausteine: ALM, Augmented Reality (AR), CAD, IoT, PLM und Service Lifecycle Management (SLM).

Die zwei hier beschriebenen Akquisitionen stärken gezielt den Baustein ALM. Um zu verstehen, was PTC als nächstes machen könnte, können wir die anderen Bausteine analysieren. PTC ist schon lange in den Bereichen CAD, IoT und PLM etabliert. Im Bereich SLM hat PTC ebenfalls ein relativ breit gefächertes Portfolio. Nur im Bereich AR hat PTC nur ein einziges Produkt und keine Hardware. Insofern wäre hier eine zukünftige Akquisition eines AR-Hardwareunternehmens denkbar.

Allerdings wäre meine Vermutung, dass die Integration der bestehenden Technologien bei PTC eine höhere Priorität hat: Schließlich kann PTC die Vision einer digitalen Transformation nur realisieren, wenn dieses riesige Portfolio an Softwarelösungen auch vernünftig zusammenspielt.

Auffällig abwesend ist das Thema Künstliche Intelligenz. Im gewissen Sinn ist es beruhigend, dass PTC nicht die Notwendigkeit sieht, dem Hype zu folgen, sondern sich auf eine langfristige Vision fokussiert. Ich bin jedoch überzeugt, dass KI-Technologien an vielen Stellen zum Einsatz kommen, ohne dass PTC groß darüber redet.

Wenig MBSE

Auch zum Thema MBSE ist PTC eher verhalten. PTC sieht MBSE als Teil vom PLM und ermöglicht Modellierung mit PTC Windchill Modeler, ehemals Artisan Studio (gekauft von Atego). Auch hier wäre denkbar, dass Atego sich ein frischeres Produkt ins Portfolio holt. Genau das ist schließlich bei der Codbeamer-Akquisition auch geschehen (PTC hatte bereits ein RE-Werkzeug im Portolio).

Fazit

Zweifellos hat PTC eine große Vision, bei der „Digitale Transformation“ nicht nur ein Hype-Wort ist, sondern eine Idee, die der Konzern konsequent für deren Kunden umzusetzen versucht. Ob das gelingt wird die Zeit zeigen, denn eine Integration in diesem Maßstab ist verdammt schwer.

Bild: Flickr / Hypnotica Studios Infinite

Michael Jastram

Creator and Author of SE-Trends