10 Herausforderungen für KI im MBSE und die dafür erforderlichen 8 Fähigkeiten
Auf dem INCOSE-Symposium letztes Jahr präsentierten Mohammad Chami, Nabil Abdoun und Jean-Michel Bruel ein interessantes „Vision Paper“ zu den Herausforderungen für KI im MBSE. Ich bin schon seit einer Weile der Meinung, dass KI das Potential hat, MBSE in den Mainstream zu bringen.
Im Folgenden die wichtigsten Inhalte aus diesem gut strukturierten Paper.
Das Paper wurde bei Wiley veröffentlicht und ist für INCOSE (bzw. GfSE) Mitglieder kostenlos verfügbar.
Warum
Als Treiber sehen die Autoren neue Technologien und Wettbewerb. Weiterhin werden Produkte immer vielschichtiger und komplexer. Kundenbedürfnisse in Produktfeatures zu übersetzen wird schwieriger. Neben unplanbaren Kosten besteht bei manchen Produkten auch die Gefahr für Leib und Leben.
MBSE wurde schon seit längerem als ein Weg erkannt, um Komplexität zu beherrschen. Auch das Thema KI in der Produktentwicklung ist nicht neu und wurde schon in den 1980ern untersucht.
Den Hauptteil des Papers haben die Autoren in zwei Teile geteilt. Im ersten Teil identifizieren sie insgesamt zehn Herausforderungen für die Anwendung von KI bei MBSE, im zweiten Teil untersuchen sie die erforderlichen Fähigkeiten von KI, um diese Herausforderungen zu lösen.
10 MBSE-Herausforderungen
Die Autoren haben zwar in der Literatur Informationen bezüglich MBSE gefunden, allerdings ohne deren Abhängigkeiten zu analysieren. Das ist ein signifikanter Beitrag dieses Forschungspapiers. Figure 2 (im Paper) zeigt diese Abhängigkeiten, abgebildet auf die typischen Projektphasen. Besonders interessant ist natürlich wie die 8 Fähigkeiten helfen, die 10 Herausforderungen zu bewältigen. Dazu am Ende des Artikels mehr. Nur so viel schon vorweg: Die Fähigkeiten sind zwar eine nützliche Liste, um KI im MBSE zu nutzen. Aber die Fähigkeiten alleine reichen für den Erfolg nicht aus.
Hier nun die Liste der 10 Herausforderungen:
1. Herausforderung: Vorabinvestitionen
Wie bei jeder neuen Methode ist auch bei MBSE eine beträchtliche Vorabinvestition erforderlich. Eine der größten Herausforderungen ist daher eine effektive Investitionsstrategie mit für die Entscheider nachvollziehbarem ROI.

2. Herausforderung: Einführungsstrategie
Unternehmen können sich für die Einführung von MBSE in einer Sandbox-Umgebung entscheiden oder direkt produktiv einsetzen. Die erste Variante kostet (zusätzliches) Geld, die zweite auch. Allerdings ist bei der zweiten Variante sowohl das Risiko wesentlich höher, verspricht aber auch, den Mehrwert von MBSE sofort nutzen zu können.
3. Herausforderung: Definition von Zweck und Umfang
Das „Warum“ und das „Was“ müssen geklärt und mit der Einführungsstrategie abgestimmt sein. Doch das ist leichter gesagt als getan. Die Teams müssen von Änderungen ausgehen und sollten in der Entwicklungsphase entsprechend verfeinert und bei der Einführung zur Messung des Nutzens herangezogen werden.
4. Herausforderung: Sensibilisierung und Widerstand gegen Veränderungen
Der menschliche Faktor spielt bei der Umstellung eine zentrale Rolle. Vor allem in der Anfangsphase ist es oft der Fall, dass die Schlüsselakteure auf unterschiedlichen MBSE-Wissensstufen stehen und nicht genügend Zeit für Schulungen zur Verfügung steht. Wir müssen mit Widerstand rechnen und mit fehlenden Kompetenzen. Mitarbeiter brauchen eine neue Art des Denkens und neue Ansätze für die Zusammenarbeit.
5. Herausforderung: Unterstützung durch die Führungsebene
Bewusstsein für MBSE spricht sich langsam auch auf der Führungsebene herum — allerdings sehr langsam. Daher kommt es immer noch regelmäßig zu Zielkonflikten. Leider gewinnt dann doch oft eine kurzfristige Lösung, die den MBSE-Einführungsprozess sabotiert.
6. Herausforderung: Definition und Ausweitung der Methode
Drei Dinge sind für die Umsetzung von MBSE wichtig: Modellierungssprachen, Modellierungswerkzeuge und eine Modellierungsmethode. Die ersten zwei Punkte sind vergleichsweise einfach doch bei der Modellierungsmethode wird es schwierig. Auch gut dokumentierte Methodiken muss das Team anpassen, dokumentieren und mit entsprechenden Modellierungsregeln, Richtlinien, Werkzeuganpassungen und Schulungsmaterialien zu unterstützen.
7. Herausforderung: Modularität und Wiederverwendbarkeit
Viele Unternehmen verfolgen immer noch einen opportunistischen und isolierten Wiederverwendungsansatz („Copy & Paste). Doch einer der großen Vorteile von MBSE (wenn richtig eingesetzt) ist bessere Wiederverwendbarkeit. Wenn wir in der Anfangsphase der MBSE-Einführung hier nicht sauber arbeiten, könnte ein großer Vorteil von MBSE verpuffen. Andererseits müssen wir auch aufpassen, dass wir keine Elfenbeinturmmodelle erzeugen.
8. Herausforderung: Umgang mit Komplexität
Das Beherrschen der Komplexität ist ein wichtiger Treiber für die Einführung von MBSE. Die Treiber für Komplexität sind unter anderen Software und Vernetzung, was die Anzahl der Abhängigkeiten drastisch erhöht. Dieser Komplexitätsgrad bringt bestehende Methoden und Werkzeuge oft an ihre Grenzen.
9. Herausforderung: Werkzeugabhängigkeit und -integration
Unternehmen müssen sich für Werkzeuge entscheiden und ihre Mitarbeiter entsprechend schulen. Diese Entscheidung hat große langfristige Konsequenzen, da ein Wechsel sehr aufwändig sein kann. Weiterhin benötigt ein modernes Produkt mehrere Werkzeuge, die integriert werden müssen.
10. Herausforderung: Visualisierung großer Modelle
Daten sind nicht gleich Information. Daher ist die Informationsextraktion aus Modellen ist eine wichtige Aufgabe, die nicht trivial ist. Allein im Modell zu navigieren kann schwierig sein. Viele Stakeholder werden nicht im Modellierungswerkzeug arbeiten wollen, was zusätzlichen Aufwand für die Erstellung von Ansichten oder Berichten erfordert.
AI4MBSE: KI-Fähigkeiten für MBSE
Unter dem Begriff AI4MBSE haben die Autoren acht Fähigkeiten gesammelt, die KI-System haben müssen, um MBSE effektiv zu unterstützen. Wie wir später noch sehen werden, reichen diese Fähigkeiten allein nicht aus, um alle oben beschriebenen Herausforderungen zu entschärfen.
Im Paper selbst gehen die Autoren auch noch weiter auf die Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Fähigkeiten ein. Dies kann zum Beispiel bei der Priorität einer Umsetzung hilfreich sein.
Fähigkeit 1: Kompetenzen bezüglich KI in MBSE
Da sich die Anwendung von KI im MBSE noch in einer Frühphase befindet, müssen wir hier Kompetenzen aufbauen. Diese Aufgabe liegt bei Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen.
Fähigkeit 2: Automatisierung
Ein KI-System sollte in der Lage sein, dem Team Arbeiten abzunehmen. Das kann sogar eine vollständige Automatisierung sein. Dabei gibt es aber einiges zu beachten, wie wir in der nächsten Fähigkeit sehen.
Fähigkeit 3: Kontrolle der Anwendung
Gerade im MBSE können unkontrolliert falsch angewendete Ergebnisse zu katastrophalen Ergebnissen führen. Daher müssen wir die Anwendung der KI kontrollieren, bspw. durch das Einschreiten bei offensichtlich falschen Ergebnissen.
Lesenswert dazu ist dieser Artikel, bei dem es unter anderem grundsätzlich um die Abwägung zwischen Automatisierung und Augmentierung beim Einsatz von KI geht.
Fähigkeit 4: Grafische Visualisierung
Da die Darstellung von Modellen eine Zentrale Rolle in der Kommunikation hat, sehen die Autoren die grafische Visualisierung als eine eigene wichtige Fähigkeit an. Die Visualisierung ist möglicherweise auch an die verwendete Methode angepasst.
Fähigkeit 5: Unterstützung von KI-Erweiterungen
Ebenso, wie wir eine angepasste Methode benötigen (Herausforderung 6), braucht eine Methode möglicherweise auch eine spezifische KI-Erweiterung. Dies erfordert Metamodelle, die ein Mapping zwischen der Modellierungssprache, den KI-Algorithmen und den grafischen Visualisierungselementen vornehmen.
Fähigkeit 6: Datenabfragetechniken
Der Zweck von MBSE ist es unter anderem, Fragen von System Engineers zum Modellinhalt zu beantworten. Ein KI-basiertes System muss mit entsprechenden semantischen Abfragetechniken die Nutzer unterstützen.
Fähigkeit 7: Ontologien
Der effektive Einsatz von KI im Kontext von MBSE wird durch eine Ontologie für die Modellierung von Sprache unterstützt. Dies ist besonders wichtig für den Umgang mit natürlicher Sprache.
Fähigkeit 8: Erfassen von Wissen
KI kann uns Unterstützen, Wissen zu Erfassen. Damit kann sie das Wissen von Domänenexperten zu erheben, dieses Wissen zu analysieren und formal in das das Systemmodell zu extrahieren und dieses Wissen mit Hilfe der Ontologie zu validieren.
Beziehung zwischen Herausforderungen und Fähigkeiten
Die acht Fähigkeiten haben das Potential, die Herausforderungen im MBSE zu entschärfen. Dazu haben die Autoren in Figure 4 eine Traceability-Matrix abgebildet.
Fast wichtiger als die abgebildeten Beziehungen sind die fehlenden Beziehungen. Insbesondere werden die Herausforderungen 5 (Unterstützung durch die Führungsebene) und 9 (Werkzeugabhängigkeit und -integration) von keiner der KI-Fähigkeiten unterstützt, was nachvollziehbar ist.
Doch in der Praxis sind diese Abhängigkeiten eher zweitrangig. Schließlich ist die Anzahl der Fähigkeiten überschaubar und alle Fähigkeiten tragen zu einer erfolgreichen Nutzung von KI im MBSE bei.
Fazit
Ein spannendes Paper zu einem hochaktuellen Thema. Durch die ganzheitliche Sicht ist dieses Paper auch für Menschen geeignet, die in Ihrem Unternehmen eine Aussage zum Einsatz von KI in der Produktentwicklung machen müssen.
Für die Zukunft haben die Autoren vor, über Umfragen ihre Ergebnisse zu validieren. Ich bin gespannt auf weitere Veröffentlichungen.
Bildquelle: FreePic