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Wird MBSE in diesem Jahrzehnt Mainstream? Drei Expertenmeinungen

Vergangene Woche nahm ich am Automotive Day in Böblingen teil. Der Besuch hat sich gelohnt: Interessante Vorträge, schöne Location und tolles Rahmenprogramm. Doch ich nutze solche Veranstaltungen auch gern um Stimmungsbilder einzufangen. Schon seit einer Weile versuche ich besser zu verstehen, wie schnell sich MBSE verbreiten wird. Daher stellte ich diese folgende Frage an viele Teilnehmer:

„Wird MBSE noch in diesem Jahrzehnt Mainstream?“

Neben vielen Antworten möchte ich hier interessante Punkte von drei Teilnehmern hervorheben. Ich hatte das Glück, dass Will Streit, IBM Vice President, Product Management, aus Austin, Texas angereist war. Danilo Beuche, CEO von Pure Systems, hat mir ebenfalls gute Impulse gegeben. Und natürlich durfte die Meinung von Andreas Willert nicht fehlen, der mit seiner Firma den Automotive Day ausgerichtet hat.

Andreas Willert: Es kommt auf die Definition von „Mainstream“ an

Um die Frage zu entscheiden müssen wir erst einmal definieren, was Mainstream eigentlich ist. Die Frage: „Wird MBSE in diesem Jahrzehnt Mainstream?“ beantwortete Andreas Willert ohne lange zu zögern mit „Ja“. Doch dann suchten wir nach einer geeigneten Definition. Eine mögliche ist:

Eine Technologie ist dann Mainstream, wenn mehr als die Hälfte der Teams, denen sie einen Mehrwert bringen würde, sie auch einsetzt.

Als wir uns auf diese Definition geeinigt hatten stimmte er zu, dass es in diesem Jahrzehnt eher schlecht für MBSE aussieht.

ALM als Mainstream-Technologie

Um ein besseres Gefühl für den „Mainstream“ zu bekommen, suchten wir nach anderen Technologien, die es bereits in den Mainstream geschafft hatten. Schnell kamen wir dabei auf ALM zu sprechen. Auch hier könnten wir länger diskutieren, was mit ALM eigentlich gemeint ist. Doch wenn wir uns anschauen, wie Software heutzutage entwickelt wird, dann sehen wir enorm viele Indizien für halbwegs vernünftiges ALM. Das liegt zum einen an der niedrigen Einstiegsschwelle durch günstige oder kostenlose Werkzeuge und Plattformen wie Jira, git, gitHub under dergleichen. Zum anderen hatten Softwareentwickler schon immer ein Bedürfniss, die neuesten Technologien auszuprobieren.

Will Streit: Drastischer Anstieg an Anfragen bei IBM

Will Streit ist Vice President, Product Management bei IBM und damit auch für die Werkzeuge wie DOORS Next und Rhapsody verantwortlich. Auf die Frage nach der Zukunft von MBSE verwies er auf den drastischen Anstieg von Anfragen in den letzten zwei Jahren diesbezüglich hin. Dabei betonte er, dass diese nicht nur von Kunden kommen, sondern auch von vielen Partnern und auch von bisher nicht mit IBM assoziierten Gruppen.

Interessant wäre natürlich, diese Aussage zu quantifizieren: Handelt es sich um einen Anstieg von 0,01% auf 0,1% oder von 1% auf 10%? Grundsätzlich bestätigt diese Aussage das von Andreas Willert gesagte: Das Interesse an MBSE nimmt spürbar zu. Doch der Weg zum Mainstream ist noch weit.

Keine Belastbare Aussage habe ich zum Thema Rhapsody bekommen. Doch zu den Werkzeugen gleich noch mehr.

Danilo Beuche: Systems Engineering ist oft genug

Danilo Beuche hat bereits bei SE-Trends einen Artikel zum Thema Normen für das Product Line Engineering veröffentlicht. Sein Unternehmen vertreibt Lösungen für das Variantenmanagement, welches auch (aber nicht nur) in Kombination mit MBSE genutzt werden kann. Doch auch aus dieser Perspektive habe ich aus dem Gespräch mit Danilo viel mitgenommen.

Ein interessanter Gedanke war, dass es zwar viel Bedarf für Verbesserungen in der Produktentwicklung gibt. Allerdings sind nicht alle Herausforderungen so groß, dass MBSE die sinnvollste Lösung ist. Insbesondere ist für viele Unternehmen mit weniger komplexen Produkten der Schritt zum Systems Engineering zielführender. Modellierung, zumindest im großen Maßstab, ist weder notwendig noch bietet es unbedingt das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Auch hier ist ein Vergleich mit ALM wieder hilfreich. Ich kenne kaum ein Unternehmen, das in der Softwareentwicklung ohne Versionsverwaltung (git, Subversion) oder Ticketsystem arbeitet. Der Einsatz von diesen Techniken ist noch kein ganzheitliches ALM, kann aber für kleine Entwicklungen ausreichend sein. Ebenso reicht für viele Teams Systems Engineering ohne die volle MBSE-Vision.

Werkzeuge als Knackpunkt

Für ein so anspruchsvolles Thema wie MBSE ist eine vernünftige Werkzeugunterstützung essentiell, auch wenn das Werkzeug allein nicht ausreicht. Insofern beobachte ich schon seit einer Weile aufmerksam die Entwicklung der SysML 2.0. Doch seit Jahren findet kaum Bewegung im Markt der Modellierungswerkzeuge statt, und das gibt mir zu Denken. Die ernsthaften Modellierungswerkzeuge und die Jahre des ersten Releases sind Rhapsody (1996), Cameo/MagicDraw (1998) und Enterprise Architect (2000).

Wird MBSE Mainstream? Ja, aber jetzt noch nicht

Mein persönliches Fazit: MBSE erlebt zur Zeit einen starken Schub. Gerade größere Firmen mit komplexen Produkten sehen das langfristige Potential in MBSE und sind bereit, zu investieren. Doch das ist nur ein kleiner Teil der Teams, die von MBSE profitieren würden. Und aus vielen Gründen ist die Einführung von MBSE mit Risiken verbunden, die kleinere Unternehmen scheuen.#

Wenn wir den Gartner Hype-Cycle betrachten, dann sehe ich aktuell MBSE noch vor dem „Gipfel der überzogenen Erwartungen“. Bis wir das „Plateau der Produktivität“ erreichen werden noch viele Jahre ins Land ziehen.

Also: Ich bin überzeugt, dass MBSE irgendwann Mainstream wird. Aber nicht in diesem Jahrzehnt.

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Michael Jastram

Creator and Author of SE-Trends