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Systemdenken auf Führungsebene

Am Anfang dachte ich es wäre Vodoo. Das Team, in dem ich gearbeitet hatte, war anders geworden, irgendwie besser. Aus dem losen, ungehobelten Haufen hatte sich ein Team gefunden. Heute, 20 Jahre später und um einige Erfahrung reicher, weiß ich, dass es kein Vodoo war. Es war eine Führungskraft, die sich mit Systemdenken und den systemtheoretischen Grundlagen unserer Kommunikation auskannte und dementsprechend gehandelt hat.

Zugegeben, über Führung und Systemdenken in einem Systems Engineering Blog zu schreiben scheint etwas ungewöhnlich. Insbesondere da ich mich hier auf die Theorie der Sozialen Systeme beziehe. Doch es kann nützlich sein, sich dieser Sonderform des Systemdenkens zu widmen. Indem man Organisationen auf diese neue Art versteht, wird es leichter gute Produkte auf komplexe Märkte zu bringen. Mit einem soliden theoretischen Background sind Veränderungen in Organisationen kein magischer Vodoo mehr – sondern nachvollziebar und handhabbar.

In diesem Gastartikel möchte ich Euch zeigen, wie ich selbst Erkenntnisse aus dem Systemdenken einsetze, um Organisationen mitzugestalten.

Märkte, Produkte und Organisationen

Bevor wir uns den sozialen Systemen an sich widmen, will ich euch noch einen Zusammenhang zwischen Märkten, Produkten und Organisationen aufzeigen. Durch Conways Law wissen wir Produkte können nur Muster enthalten, die zuvor schon in der produzierenden Organisation angelegt waren. Und ich denke das selbe gilt auch für Produkte und Märkte: Produkte können dann erfolgreich sein, wenn sie die Muster des Marktes widerspiegeln. Das Produkt an sich, der Markt und die Organisation haben alle ihren spezifischen Grad an Komplexität und sind idealerweise aufeinander abgestimmt.

Jetzt werden seit IOT und KI Produkte immer komplexer. Sie passen damit zu unseren globalisierten Märkten des 21. Jahrhunderts. Und mit Ashbys Law wissen wir: Um ein System (den Markt) zu steuern braucht es ein steuerndes System (Produkt), dass eine höhere Varianz hat als das zu steuernde System (der Markt). So erreicht das neue Produkt echte Innovation am Markt. Die beiden Systeme passen zusammen. Doch für unsere Organisationen trifft das oft nicht zu.

Schablonen reichen nicht

Die meisten sozialen Systeme, in denen wir heutzutage arbeiten basieren auf Konzepten, die in der Industrialisierung gereift sind – zu einem Zeitpunkt, als Produkte noch kompliziert sein durften.

Um trotzdem erfolgreich zu sein greifen die meisten Organisationen auf Schablonen wie Design Thinking zurück. Aber der Einsatz dieser Schablonen scheitert an den Strategien der Organisation, ihre eigene Komplexität einzuschränken: Silodenken, formale Hierarchien und die gut bekannte lokale Optimierung einzelner Karrierewege. Erst durch das Herstellen einer erhöhten inneren Varianz im sozialen System kann die Organisation diese Schablonen wieder für sich nutzen. Gute Produkte entsteht nicht durch Wunder oder Zufall, sondern durch gute, hinreichend komplexe Organisationen.

Hier kommt die Aufgabe von Führungskräften ins Spiel: Arbeiten sie an der Organisation, können sie hinreichende Komplexität sicherstellen. Doch was heißt das in der Praxis? Hier ein Beispiel, das zeigt, wie Systemdenken einer Führungskraft helfen kann, die richtigen Entscheidungen zu treffen:

Systemdenken in der Praxis

Eine Führungskraft aus einem großen Konzern ist vor ein paar Jahren auf mich zugekommen. Ihre Aufgabe war es, ein integriertes System im Bereich IOT zu entwickeln. Die verschiedenen Teil-Produkte sollten nahtlos ineinandergreifen. Zudem musste das Produkt kulturelle Unterschiede einzelner Länder berücksichtigen können. Das Team hinter dem Produkt bestand aus Experten ihrer Fachrichtung. Hier erkennen wir drei Quellen von Komplexität wieder: Das Produkt an sich, der Markt und die Organisation.

Der Großkonzern mit seinen Regeln, Vorgaben und Kultur war nicht darauf ausgelegt, genügend innere Komplexität aufzubauen um die Produktentwicklung effektiv anzugehen. Das Projekt drohte zu scheitern bevor es gestartet war. Wir setzten uns zum Gespräch zusammen und es entstand eine erste Strategie. Statt auf Wertschöpfung mehrere Monate zu warten haben wir die Zeitspanne auf wenige Wochen reduziert. Um das leisten zu können mussten sich die Fachexperten regelmäßiger und intensiver austauschen. Die Führungskraft änderte die Randbedingungen, und die Kommunikationsstrukturen begannen sich zu ändern. Die innere Varianz des sozialen Systems stieg. Dass genau diese Lösung für dieses Team funktionierte, war aber nicht voraus zu sehen.

Soziale Systeme

„[…] Menschen können nicht kommunizieren, nicht einmal ihre Gehirne können kommunizieren, nicht einmal das Bewußtsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation kann kommunizieren.“

Niklas Luhmann

Einer der stärksten Mindfucks und aber auch gleich wichtigsten Annahmen in der Theorie sozialer Systeme ist die Erkenntnis, dass der Mensch Systemumwelt zum sozialen System ist. Das soziale System selbst besteht aus Kommunikation. Am einfachsten ist das zu beobachten, wenn Muster im Kommunikationsverhalten einer Gruppe gleich bleiben, auch wenn die Menschen in dieser Gruppe wechseln. Wie soll dann aber Veränderung ins soziale Sytem kommen, wenn Menschen doch vermeintlich keine Rolle spielen? Einen möglichen Weg haben wir in dem eben genannten Beispiel gesehen: Durch die Änderungen von Rahmenbedingungen. Ein anderer Weg wäre das Ändern von Kommunikationsmustern durch Selbstführung, evolutionären Sinn und Ganzheitlichkeit, wie sie von Frederic Laloux beschrieben wurden. Es gibt noch viele weitere – die sollen aber unseren Rahmen hier nicht sprengen.

Die Art, wie ein soziales System auf die Veränderungen in seiner Umwelt reagiert, obliegt der inneren Logik des Systems. Durch aufmerksames Beobachten, Ausprobieren und Reflektieren kann ungünstigen Entwicklungen begegnet werden. Hier hilft Erfahrungswissen in Zusammenspiel mit theoretischem Fundament ungemein, und Begleitung kann sinnvoll sein.

Veränderung braucht Führungsmandat

Jeder, der schon in einer großen Organisation gearbeitet hat, weiß, dass Veränderungen in den Kommunikationsmustern einer Organisation schwierig, wenn nicht unmöglich sind. Es braucht Führungspersönlichkeit, um diese Veränderungen zu gestalten und idealerweise auch die organisationale Macht, diese Veränderungen zu verantworten. Aber durch ein besseres Verständnis der inneren Strukturen und Zusammenhänge einer Organisation kann jeder Mensch, der an ein soziales System gekoppelt ist, zu dieser Führungspersönlichkeit werden. Dieser Artikel hier konnte nur einen kleinen Einblick geben, aber ich hoffe, ich habe euch inspiriert euch noch weiter mit dem Thema zu beschäftigen.

Wir müssen nicht unsere Schwächen beseitigen. Wir müssen ein (soziales) System schaffen, in dem Schwächen nicht relevant sind und Stärken gelebt werden können.

frei nach Fredmund Malik

Wenn ihr Fragen habt oder Themen, über die ich schreiben soll, meldet euch bei mir. Ich hoffe, bei Zeiten mehr über die Einfachheit und die Schönheit schreiben zu können, die die Anwendung dieser Theorie in meinen Arbeitsalltag und den Arbeitsalltag der Menschen bringt, mit denen ich arbeite. Für alle, die so lange nicht warten können, gibt es hier meinen Artikel zu guter Zusammenarbeit im Team. Ich freue mich wenn ihr kommentiert oder euch mit mir auf LinkedIn vernetzt, so dass wir die Reise zu besseren Organisationen und besseren Produkten gemeinsam gehen können.

Bildquelle: Jacek Dylag on Unsplash

Julia Grassinger

Als Gestalterin von kokreativen Räumen lerne ich gemeinsam mit Anderen, wie wir besser werden können in der Entwicklung von Produkten. Das Ziel ist, gute Produkte auf den Markt zu bringen - und Produkte gut auf den Markt zu bringen. Dafür bin ich manchmal als Transformationsbegleiterin, Scrum Master, Agiler Coach oder Trainerin für agiles Requirements Engineering unterwegs. Immer zusammen mit meinen Kolleg:innen von HOOD. Gemeinsam ergänzen wir uns in unseren Expertisen. Schaut doch mal auf unserer Website vorbei https://www.hood-group.com/ :) Meine Arbeit basiert auf 20 Jahren Erfahrung in der Arbeit mit Menschen, einem kulturanthropologisch ausgerichtetem Studium, einer Trainerausbildung im erfahrungsbasierten Lernen und dem ständigen Antrieb mehr zu lernen über uns Menschen und wie wir Wert in die Welt bringen.