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Offene Schnittstellen erzwingen? Zwei Beispiele

Das Bundesgesundheitsministerium (BGM) hat offene Schnittstellen in der Medizin gefordert – sowohl für Software als auch für Hardware, wie bspw. Herzschrittmacher.

Das ist nicht das erste Mal, das per Dekret Offenheit gefordert wird. Ein anderes Beispiel ist das European Train Control System (ETCS), welches grenzüberschreitenden Verkehr von Hochgeschwindigkeitszügen ermöglicht.

Im Folgenden werden die Vor- und Nachteile, Chancen und Gefahren untersucht.

Schnittstellen – warum eigentlich?

Wenn wir ohne explizit definierte Schnittstellen entwickeln, dann bekommen wir eine monolithische Lösung. Schnittstellen hingegen ermöglichen eine Entkopplung. Dies hat viele Vorteile, wenn die Schnittstellen sauber und vollständig definiert wurden:

  • Komplexität wird beherrschbar, da jedes über Schnittstellen abgetrennte System unabhängig vom Gesamtsystem entwickelt und getestet werden kann.
  • Technische Abhängigkeiten werden reduziert, da an eine klar definierte Schnittstelle einfach ein anderes System angeschlossen werden kann.
  • Es kann besser auf Wandel reagiert werden, da sich Änderungen oft nicht über Schnittstellen hinweg auswirken

Aber Schnittstellen haben auch Nachteile:

Wirtschaft nur bedingt an offenen Schnittstellen interessiert

Wer in den 90ern in der IT unterwegs war, erinnert sich vielleicht noch an den „Krieg“ zwischen den Herstellern von Tintenstrahldruckern und den Nutzern, die Patronen lieber selbst befüllten, statt diese für ein vielfaches neu zu kaufen. In diesem Beispiel ist der Hersteller durchaus an Schnittstellen interessiert, aber nicht offenen. Den mit den Patronen wurde das Geld verdient.

Doch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten kann eine offene Schnittstelle durchaus interessant sein, solange der Hersteller den Standard kontrolliert, und eine Seite des Systems beherrscht. Zum Beispiel ist die Software-Schnittstelle zu Android offen, aber Google kontrolliert den App-Store (Play Store), über den die Masse der Apps installiert werden. Über eine geschickte Lizenzstruktur stellt Google sicher, dass es unbequem ist, den Play Store zu umgehen. Bei Apple sind diese Strukturen noch stärker ausgeprägt.

Und zuletzt gibt es auch Situationen, in denen die Industrie für offene Standards dankbar ist. Nämlich dann, wenn es nicht die eigenen Produkte betrifft, aber die dafür notwendige Infrastruktur. Zum Beispiel dürfte kaum ein Druckerhersteller ein Interesse haben, das A4-Papierformat nicht zu unterstützen.

Zurück zur Eisenbahn

Durch die Einführung von Hochgeschwindigkeitszügen in den 80ern wurde das Thema des grenzübergreifenden Zugverkehrs immer wichtiger. In den 90ern beschloss die EU, die Erstellung eines Anforderungskatalogs für die Interoperabilität im Hochgeschwindigkeitsverkehr zu fördern. Dies wurde auch von der Industrie positiv aufgenommen.

Das Projekt nahm Fahrt auf, und inzwischen ist es in Europa erfolgreich etabliert. Doch zwei Probleme wurden von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen:

  • Noch bis in die 2010er gab es erhebliche Probleme mit der Interoperabilität. Erst durch konkrete Maßnahmen konnte das Problem eingedämmt werden. Insbesondere war es in den 2000ern so schlimm, dass manche Züge für jedes Land in dem sie fahren durften, ein eigenes ETCS-Steuergerät mitführten. Verschiedene Versionen des Standards verschärfen dieses Problem weiter.
  • Die Einführung von ETCS ist mit erheblichen Kosten verbunden. Die fehlende Interoperabilität hat sich auf die sowieso schon hohen Kosten noch weiter in die Höhe getrieben.

Dennoch können wir hier unterm Strich eine positive Bilanz ziehen, denn das Ergebnis ist ein attraktives Produkt, das nach wie vor den Sicherheitsanforderungen der Eisenbahnindustrie standhält.

Hier hat sicherlich geholfen, dass ein gemeinsamer Standard auch im Sinne der Betreiber von Zügen und Gleisanlagen ist: Zugbetreiber können ihr Angebot grenzüberschreitend erweitern, während Netzwerkbetreiber mehr Auslastung bekommen, wenn mehr Betreiber ihr Netz nutzen können.

Nicht ganz so attraktiv ist der Standard für die Hersteller von Komponenten: Denn eine vollständige Interoperabilität würde bedeuten, dass Kunden (Zug- und Netzbetreiber) Komponenten dort kaufen können, wo die Angebote am attraktivsten sind. Ich möchte mich nicht dazu äußern, ob die Anfang der 2000er beobachteten Inkompatibilitäten etwas damit zu tun haben oder nicht…

Offene Schnittstellen im Gesundheitswesen?

In Hinblick auf das in der Vergangenheit gelernte, was können wir vom Aufruf des Bundesgesundheitsministeriums für offene Schnittstellen in der Medizin erwarten? In dem Aufruf geht es zunächst um Schnittstellenoffenheit bei Softwarelösungen, was den Austausch von Patientendaten, Rezepten und ähnlichem suggeriert.

Doch dabei wird es sicher nicht bleiben. Zum Beispiel gibt es eine Anfrage der Grünen, ob nicht ein Standard für im Körper implantierten Teile sinnvoll sei. Daran erkennt man schon, dass es sich hier um einen immens größeren Scope handelt als bei ETCS.

Besonders unter dem Gesichtspunkt der oben genannten Vor- und Nachteile könnte es schwer werden, die Industrie zur Entwicklung solch einen Standards zu bringen. Zum Beispiel dürfte die Häufigkeit, an eine bestehende Schnittstelle (Herzschrittmacherelektrode) eine andere Komponent anzuschließen (Herzschrittmacher), ist sehr gering sein. Um dies auch noch Herstellerunabhängig zu realisieren, dürfte die Kosten-Nutzen-Rechnung schlecht ausfallen.

Software? Ja! Hardware? Schwierig 

In der Praxis könnte so etwas funktionieren, wenn ein starker Teilnehmer im Markt hier selbst einen Standard erstellt, über die eigenen Produkte einfordert und darauf ein Geschäftsmodell aufbaut. Vielleicht gibt es einen Hersteller von Elektroden, der den Herstellern von Herzschrittmachern einen Standard nahelegt, diese mit den eigenen Geräten zu verbinden.

Anders sieht es hingegen bei Patientendaten oder elektronischen Rezepten aus: Hier ist zu erwarten, dass es zahlreiche Produzenten und Konsumenten von Daten gibt. Dort herrscht eine ganz andere Dynamik.

Doch auch dort ist es nur allzu leicht, sich zu verzetteln. Ein Mandat der Regierung ist sicherlich sinnvoll, um größere Transformationen in die Wege zu leiten. Aber damit dies auch funktioniert, müssen die Interessen aller Stakeholder berücksichtigt werden. Der bisherige Diskurs scheint auf dem besten Weg zu sein, sich in verschiedene Richtungen zu verzetteln. Hoffen wir, das wir den Fokus wiederfinden, um das Gesundheitswesen nachhaltig zu verbessern.

Photo by Ani Kolleshi on Unsplash


Michael Jastram

Creator and Author of SE-Trends