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Brauchen wir Normen für das Product Line Engineering – und wenn ja, wie viele?

In diesem Gastartikel von von Dr. Danilo Beuche geht es um das Thema Product Line Engineering, ein weiterer Komplexitätstreiber im Systems Engineering. Für manche Leser ist es sicher überraschend zu erfahren, dass es nicht nur einen, sondern gleich mehrere Standards zu diesem Thema gibt. Ob das sinnvoll ist, erläutert Dr. Beuche im Folgenden.

Die englische Version dieses Artikel ist im Blog der pure-systems zu lesen.

Gastbeitrag von Danilo Beuche

Vollständige Offenlegung: Sowohl ich als auch andere pure-systems Teammitglieder waren und/oder sind in internationalen Standardisierungsgremien wie AUTOSAR, OASIS und ISO engagiert. Ich vertrete auch pure-systems in der INCOSE Product Line Working Group. Dies wird also kein Beitrag eines objektiven Zuschauers sein, sondern eher der eines Mannes, der einige Zeit seines Lebens damit verbracht hat, dabei zu helfen, dass Standards geschrieben und in der Praxis angewendet werden.

Als Ergebnis einer Standardisierungsaktivität, die vor ein paar Jahren als Initiative von Mitgliedern der Product Line Engineering Working Group der INCOSE gestartet wurde, wurde vor ein paar Tagen ein neuer Standard zum Product Line Engineering (PLE) von der ISO veröffentlicht: die ISO26580:2021 (Software and Systems Engineering – Methods and Tools for the Feature-Based Approach to Software and Systems Product Line Engineering). Dies war der Auslöser für meinen Beitrag, da ich Ihnen gerne einige Fakten und meine Ansichten über Standards im PLE mitteilen möchte.

Der Standard beschreibt die branchenweit beste Praxis für PLE, den Feature-basierten Ansatz. Er gibt uns Namen für Konzepte rund um diesen Ansatz und stellt sie in einen Kontext (d. h., er erstellt eine Ontologie). Er beschreibt auch die Anforderungen an die Elemente, die zur Implementierung dieses Ansatzes verwendet werden. Anhand dieses Standards können Sie beurteilen, ob ein Engineering-Ansatz ein Feature-basierter PLE-Ansatz ist oder nicht (und was fehlt, wenn nicht). Wenn Sie jemals über die Frage „Was ist ein Feature?“ nachgedacht haben, werden Sie dort eine Antwort finden. Das ist gut so. Allerdings ist die erwähnte Norm ISO 26580 nicht die erste Norm zum Thema PLE und wird auch nicht die letzte sein, die veröffentlicht wird. Eine Frage drängt sich auf:

Warum sind mehrere Standards für PLE erforderlich und wie viele Standards brauchen wir?

Dr. Danilo Beuche

Bevor wir tiefer in diese Frage eintauchen, sollten wir uns ansehen, was es bereits gibt: Selbst die ISO hat bereits mehrere Normen zum Thema PLE in der Normenfamilie ISO 2655x/2656x, mit der ISO 26550 als Grundlage für alle diese Normen (einschließlich der ISO 26580 als Spezialisierung der Konzepte in ISO 26550ff).

Weitere Standards

Aber es gibt noch mehr: Seit #AUTOSAR 4 bietet dieser Standard Metamodellelemente zur Darstellung von Konzepten der architektonischen Variabilität in der automobilen Software-Domäne, einschließlich eines vollständig definierten Metamodells für die Feature-Modellierung bis hin zur XML-Datenrepräsentation. Dies ist eindeutig ein Standard, der Datenmodelle für die werkzeugbasierte Zusammenarbeit definieren soll. Er definiert nicht, wie Sie die Konzepte verwenden würden, um PLE auszuführen. Und er ist auf eine Sache fokussiert: die Automobilsoftware-Architektur- und Implementierungsdomäne.

Derzeit werden weitere Standards mit eingebetteten Aspekten von Product Line Engineering entwickelt, wie z.B. OMG’s SysML V2 und die OASIS Variability Exchange Language (VEL), die sich beide mit der Herausforderung befassen, maschinenlesbare Informationen in Bezug auf Variabilität (die ein Kernkonzept von PLE ist) auf standardisierte Weise darzustellen. Der Anwendungsbereich von SysML V2 ist das modellbasierte Systems Engineering, während VEL als Sprache für den Austausch von Variabilitätsinformationen zwischen dem PLE Factory Configurator (dies ist übrigens ein von ISO26580 definierter Begriff und bezieht sich auf Werkzeuge wie pure-systems‘ pure::variants und Biglever Gears) und Autorenwerkzeugen für Shared Superset Assets (wie z.B. Anforderungsmanagement- oder MBSE-Werkzeuge) dienen wird.

Im Gegensatz zu den ISO-Standards für PLE konzentrieren sich alle anderen oben genannten Standards auf die Bereitstellung konkreter Mittel zum Datenaustausch und zur Datenverarbeitung, lassen aber den methodischen Aspekt vermissen, der in den ISO-Standards vorhanden ist.

Dr. Danilo Beuche

Alle diese Standards haben tatsächlich ihren Platz im großen Ganzen. Betrachten wir die Automobilindustrie. Diese entwickelt zukünftige Autos und zugehörige Infrastrukturen (z. B. Smart Highways) mit Hilfe von modellbasiertem Systems Engineering, das sie dann als Input für eine AUTOSAR-basierte Softwareentwicklung verwendet. Die Variabilität ist mit diesen verschiedenen Modellen / Datendomänen verbunden und muss ganzheitlich kontrolliert werden, wobei VEL als Lingua Franca verwendet wird, um Variabilitätsinformationen zwischen verschiedenen Werkzeugen auszutauschen, wie z. B. einem SysML-V2-Modellierungstool, AUTOSAR-Tooling und dem PLE-Fabrikkonfigurator-Tool. Die ISO-Normen helfen uns, eine Methodik aufzustellen und zu verstehen, welche Anforderungen die Werkzeuge und die Organisation erfüllen müssen.

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass wir die verschiedenen Standards so aufeinander abstimmen müssen, dass eine Zusammenarbeit möglich ist, ohne dass dies ein Hindernis für Evolution und Innovation darstellt. Allerdings wird es nicht den einen Standard geben, der für alle gilt.

Fazit

Ich denke, dass die PLE-Gemeinschaft auf dem richtigen Weg ist, da viele von uns sich in den verschiedenen Standardisierungsaktivitäten engagieren. Wir betreiben viel Aufwand, um mit den Domänenexperten für Systems Engineering, Werkzeugherstellern usw. zu kommunizieren. Diese müssen verstehen, wie wichtig es ist, abgestimmte Konzepte zu haben, die offen für die Zusammenarbeit sind.

Wenn wir Product Line Engineering als einen wirklich ganzheitlichen Ansatz sehen (was es ja auch ist), müssen wir auch den Maschinenbau und seine Standards (insbesondere die im Bereich der digitalen Repräsentation wie ISO 10303) mit einbeziehen. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass wir noch mehr Standards oder Weiterentwicklungen bestehender Standards sehen werden, die in Bezug auf PLE erscheinen sehen werden.

Über den Autor

Prof. Dr. Danilo Beuche ist Mitgründer und CEO von pure-system und einer der führenden Köpfe im Product Line Engineering (PLE). Danilo wird von der Idee angetrieben, Unternehmen dabei zu helfen, bessere und langlebigere Produkte zu entwickeln und dabei stets auf wirtschaftliche Wiederverwendung und Nachhaltigkeit zu achten. Im Jahr 2001 war er Mitbegründer von pure-systems, einem Softwareunternehmen, das sich auf Dienstleistungen und Werkzeugentwicklung für die Anwendung von Produktlinientechnologien in eingebetteten Softwaresystemen spezialisiert hat. Als Marktführer im Bereich PLE hilft pure-systems weltweit tätigen Konzernen und mittelständischen Unternehmen, die Kosten niedrig zu halten und gleichzeitig die Qualität und Sicherheit ihrer Produkte zu verbessern.

Vor der Gründung von pure-systems arbeitete Danilo an der Universität Magdeburg an der Werkzeugunterstützung für featurebasierte Softwareentwicklung. Seit 2016 ist er zudem Honorarprofessor am Institut für Wirtschaftsinformatik (IWI) der Universität Leipzig.

Photo by Nathan Dumlao on Unsplash

Michael Jastram

Creator and Author of SE-Trends