Interview mit Walter Koch für SE-Trends

Die Personalstruktur der Gesellschaft für Systems Engineering (GfSE) hat sich letztes Jahr geändert. Dr. Walter Koch (Schaeffler AG) wurde am 8. November 2019 zum neuen Vorsitzenden der Gesellschaft für Systems Engineering e.V. (GfSE) gewählt. Grund genug für SE-Trends, das Gespräch mit Walter Koch zu suchen.

Das Gespräch fand am 21. Februar 2020 online statt. Das war eine Zeit, wo Covid-19 noch auf China beschränkt zu sein schien. Insofern wird Corona auch mit keinem Wort erwähnt.

Nach elf Jahren hat die GfSE mit Ihnen einen neuen Vorsitzenden bekommen. Was dürfen wir erwarten: kurzfristig, langfristig, inhaltlich, strukturell?

Meine Interesse liegt darin, wie das Thema Systems Engineering (SE) in einem Industrieunternehmen umgesetzt werden kann. Systems Engineering in der Industrie wird wichtiger. Ich beobachte schon eine Zeit lang, dass immer mehr Diskussionen auch im Kollegenkreis zu diesem Thema stattfinden. Dabei geht es gar nicht so sehr darum, was SE bedeutet, aber wie können wir besser damit umgehen und davon profitieren? Diese Veränderung hat mich dazu bewogen, den Vorsitz anzunehmen, sowie das Thema Digitalisierung, welches die ganze Gesellschaft bewegt.

Mein vorrangiges Interesse wird sein, die GfSE in den Verbunden wie z.B. VDI, VDA, VDMA, ZVEI oder Bitkom präsenter zu machen und damit Kontakte zu deren Mitglieder zu bekommen, um die GfSE als Kompetenzträger für das Thema Systems Engineering bekannt, bzw. noch bekannter zu machen.

Die Digitalisierung trifft natürlich auch die GfSE und da müssen wir noch einiges tun, um die damit verbundenen Möglichkeiten in der Community zu nutzen. Die interne Organisation muss an die Größe des Vereins angepasst werden, die Sven-Olaf Schulze und die anderen Vorstandsmitglieder in den letzten Jahren erreicht haben. Dabei soll sich trotzdem jedes Mitglied in der Organisation wohlfühlen, sich quasi wie eine große Familie sehen. Das soll durch eine Professionalisierung nicht verloren gehen.

Also, kurz zusammen gefasst: Industriepräsenz, Digitalisierung, Professionalisierung.

Walter Koch

Ein Ziel ist also, dass die Industrie mehr von „Systems Engineering“ profitiert. Gibt es da ein noch nicht ausgeschöpftes Potential, oder gibt es ungelöste konkrete Schmerzpunkte, wo SE der aktuell vielversprechendste Weg zu sein scheint?

Ich bin jetzt seit 30 Jahren in der Automobilindustrie unterwegs, die sich mit dem Thema Systems Engineering schon länger befasst. Die Komplexität der Produkte, die die OEMs bei Ihren Zulieferern bestellen, steigt immer mehr. Dies ist eine riesige Herausforderung für alle Unternehmen und Entwicklerteams.

Ja, es gibt ein ungenutztes Potential. Aber ich denke eher, dass die Schmerzen in Moment so groß sind, dass man versucht, neuere Methoden in der Entwicklung einzusetzen, um mit den Anforderungen zurechtzukommen.

Was ist denn der Stand vom Systems Engineering in Deutschland verglichen mit dem internationalen Stand?

Ich habe am INCOSE International Workshop in Los Angeles im Januar teilgenommen und war dort auf einen Arbeitskreistreffen der Automotive-Gruppe, wo es leider sehr wenig Beteiligung der deutschen Automobilindustrie gab. In diesem Kreis diskutierten die Hersteller aus Amerika – und aus anderen Ländern – über Standardisierungsbestrebungen, was nach meiner persönliche Einschätzung in Deutschland etwas kurz kommt.

Standardisierung auf welche Ebene? Wo hakt es?

Es gibt durchaus Standards in den Produkten, die in der europäischen Automobilindustrie sehr stark gewachsen sind oder gefördert werden wie AUTOSAR. Aber zu kurz kommen eher so Standards im Datenaustausch oder in der Arbeitsweise der Entwicklungspartner.

Die deutschen Automobilhersteller haben einen sehr starken Fokus auf die Produkte selbst, aber es gibt einige Industrieunternehmen, die inzwischen sehr viel Wert auf die Abläufe und die Zusammenarbeit mit Entwicklungspartnern legen, um die Kompetenz über mehrere Unternehmen zusammenzuführen. Das setzt natürlich ganz andere Standards voraus.

Ich habe in einem Forschungsprojekt die Erfahrung gemacht, dass wir in der Kooperation von mehreren Partnern in einem Bruchteil der Zeit Lösungen schaffen konnten, als wenn das ein Industrieunternehmen alleine versuchen würde. Die Partner können ihre spezifischen Kompetenzen, Mannschaft und Infrastruktur in die Kooperation einbringen.

Ich gehe davon aus, dass die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen mit dem Ziel Geschwindigkeitsgewinn wichtiger wird.

Walter Koch

Voraussetzung für diese Geschwindigkeitszunahme ist ein gemeinsames Verständnis zu den Produkten, die man realisieren will, aber auch zu der Arbeitsweise, zum Datenaustausch auf einer viel höheren Ebene.

Das ist Ihre Wahrnehmung von SE in Automotive. Erstreckt sich das auf andere Industrien?

In den letzten Jahren habe ich zu vielen Branchen Kontakt bekommen und die ticken alle etwas anders. Die Automobilindustrie ist – nach meiner persönlichen Einschätzung – sehr weit fortgeschritten in Einsatz moderner Technologien. Das gilt nicht für jede Industriebranche, in Vergleich ist der Kostendruck der Automobilbranche groß, weil es sich um ein hochwertiges, privat genutztes Investitionsgut handelt.

Beispielsweise ist die Luftfahrtbranche auch sehr weit fortgeschritten. Es sind dort auch Sicherheitsanforderungen, die der Luftfahrtindustrie viel größer sind und damit auch eine steigende Komplexität verursachen.

In der Medizintechnik sind Anforderungen sehr wichtig an die Zuverlässigkeit der Geräte sowie auch zur Sicherheit für den Patienten.

Das Problem der steigenden Komplexität ist immer etwas anders gelagert. Dies führt zu unterschiedlichen Ausprägungen der Abläufe oder des Verständnis. Was alle gemeinsam haben ist, dass ihre Produkte immer mehr vernetzt werden oder immer mehr Funktionalität in ein Produkt integriert wird. Das ist eine Komplexität, die schnell über die Firmengrenzen und -kompetenzen hinausgeht.

Wie soll denn diese Professionalisierung der GfSE aussehen und welche Rolle spielt die SE-TREC dabei?

Hierzu meine persönliche Meinung: Die SE-TREC wurde gegründet, um das Thema Zertifizierung zu SE durchzuführen. Daneben unterstützt sie den Verein bei der Organisation von großen Veranstaltungen.

Daneben kümmert sich unser Office in Bremen um die Mitgliederbetreuung sowie den Auftritt nach außen. Da müssen wir noch mehr in die Öffentlichkeitsarbeit investieren.

Eins meine Themen wird sein, wie wir die Mitglieder interaktiver an der Zusammenarbeit beteiligen können. Wie können wir die Zusammenarbeit über den Verein organisieren? Und vielleicht kann der Verein eine Basis sein für die Standardisierungsaktivitäten in der Zusammenarbeit zwischen Firmen. Aber das sind, wie gesagt, noch meine persönlichen Ideen. Die Strategie werden wir noch abstimmen.

Was sind für Sie und die GfSE die größten Herausforderungen?

Das Thema Systems Engineering bekommt in der Industrie heute eine viel stärkere Bedeutung. Weil es ein extrem abstraktes und vielschichtiges Thema ist, wird es von den beteiligten Personen stark unterschiedlich gesehen und beurteilt. Deswegen entstehen zurzeit auch an vielen Stellen SE-Interessensvertretungen. Es ist erst einmal nicht grundgesetzlich schlecht, aber wie bekommt man die sehr unterschiedlichen Interessen zusammengeführt, und hält sie zusammen? Wie bekommt man eine Stimme, vielleicht sogar bis in die Politik hinein? Welche Fördermaßnahmen bräuchte die deutsche Industrie, um im Weltvergleich wettbewerbsfähig zu bleiben? Da sehe ich SE als ein wichtiges Instrument für Beherrschung der steigenden Komplexität der Zukunft. Und ich sehe die GfSE als eine Institution, um einen neutralen Boden anzubieten, wo eine unternehmensübergreifende Zusammenarbeit möglich ist.

Wie passt das zur Vision 2025?

Jeder, der sich engagiert, braucht eine Vision. Ich brauch zumindest eine.

Wenn man eine Vision hat, dann kommt man weiter und bekommt viele Gleichgesinnte dahinter – wenn die Vision groß genug ist.

Walter Koch

Die INCOSE Vision 2025 ist in meinen Augen eine stark technisch geprägte. Auch wenn das Wort „Engineering“ drinsteckt, so glaube ich, dass Systems Engineering über das rein technische Verständnis hinausgehen sollte. Für mich ist „Systems Engineering“ oder „Systemtheorie“ ein Hilfsmittel, um Komplexitätsfragen der Gesellschaft zu bewältigen. Und da sind wir ganz schnell bei politischen Fragestellungen.

Bildquelle: Walter Koch

Michael Jastram

Creator and Author of SE-Trends