Digital Twin und Digital Thread: Nicht verwechseln!
Die in letzter Zeit häufiger anzutreffenden Begriffe „Digital Twin“ und „Digital Thread“ haben beide eine Menge mit Systems Engineering zu tun. Aber Vorsicht, es ist nicht dasselbe! Wo die Unterschiede liegen und was wir mit dem digitalen Zwilling, bzw. dem digitalen Faden machen können, darum geht es im Folgenden.
Ich wollte schon länger einen Artikel zum „Digital Twin“ schreiben. Das Thema kam auch kürzlich beim Automotive Day auf, wo Andreas Willert darauf hinwies,diese zwei Begriffe tunlichst nicht zu verwechseln.
Beide, Digital Twin und Digital Thread, helfen bei der Bewertung von Verfahren, Prozessen und Produktkonzepten in einer virtuellen Umgebung. Dabei ist der digitale Zwilling die aktuelle Darstellung eines Produkts oder Systems. Der digitale Faden hingegen ist die Aufzeichnung aller Details eines Produkts oder Systems über die Zeit, von seiner Entstehung bis zu seiner Entsorgung. Beides ist nützlich.
Der Digital Thread ist nicht neu
Der digitale Fäden ermöglicht die Rückverfolgbarkeit über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts. Dies wird in sicherheitskritischen Industrien schon seit Jahrzehnten betrieben. Gerade in Luftfahrt und Bahntechnik ist dies vorgeschrieben und ist ein wichtiger Treiber von Product Lifecycle Management (PLM).
Wenn zum Beispiel ein Fahrzeug aufgrund eines Systemfehlers, z. B. einer fehlerhaften Beschleunigung, einen Unfall hat, kann der Digital Thread durch die Rückverfolgbarkeit über den gesamten Lebenszyklus eines Fahrzeugs das Problem identifizieren.
Traditionell hat PLM einen starken Fokus auf Bauteile und Komponenten. Beim Digital Thread geht es nun darum, die Nachverfolgbarkeit feingranular zu gestalten, also von der „Dokumenten-Denke“ wegzukommen. Hinzu kommt, dann nun auch Software (und deren Revisionen) nachverfolgt werden müssen.
Der Digital Twin eröffnet neue Möglichkeiten
Beim digitalen Zwilling hingegen ist ein Modell, das den Ist-Zustand eines Systems repräsentiert. Das Ziel des Digital Twins ist es, Aktivitäten am Modell durchzuführen, bevor sie am eigentlichen System durchgeführt werden. Das Spektrum von möglichen Aktivitäten hängt stark vom Modell ab. Bei einer Fahrzeug könnte dies das Verschieben des Motorblocks sein, um festzustellen, ob genug Platz für ein weiteres Aggregat existiert. Bei einem Verbrennungsmotor könnte simuliert werden, wie gut dieser einen neuen Kraftstoff verträgt. Im ersten Fall wäre ein einfaches CAD-Modell die Grundlage, im zweiten Fall vielleicht ein aufwändiges Simulink-Modell.
Das Arbeiten mit Modellen ist nicht neu. Die Idee hinter dem Digitalen Twin geht es um die Ganzheitlichkeit, das CAD-Modell und Simulink-Modell gehören zu einem Gesamtmodell, dem Digital Twin.
Punktuelle Modellierung ist nicht neu. Ganzheitliche Modellierung hingegen wird, soweit ich weiß, nur in wenigen Organisationen realisiert, zum Beispiel in der Luftfahrt.
Digital Twin und Digital Thread kombinieren
Zwischen den beiden Konzepte gibt es natürlich Überlappungen. Das macht es umso leichter die Konzepte zu kombinieren, um noch leistungsfähigere Anwendungsfälle zu unterstützen. Ein wichtiger Aspekt ist die Reduzierung von Redundanzen: Insbesondere ist MBSE ein wichtiger Ansatz, der die Nachverfolgbarkeit vereinfacht, also den Digital Twin unterstützt.
Aber bei MBSE-basierten Ansätzen haben wir ja bereits ein Modell. Und je nach Detaillierungsgrad bzw. Formalismus kann es möglich sein, mit dem (Teil-)Modell zu interagieren: Wir haben vielleicht schon den Teil eines Digital Twins.
Hype und Realität
Doch wir sollten auf den Boden der Realität zurückkommen: Es ist ein weiter Weg von der Simulation eines Teilaspekts des Systems zu einem echten Digital Twin. Auch was den Digital Thread betrifft, haben wir heute noch viele Lücken, oft verursacht durch Werkzeugbrüche.
Digital Thread und Digital Twiin sind Ideen, die nicht verwechselt werden dürfen, die wir aber durchaus gemeinsam verfolgen können. Doch dies ist eine große Vision die bisher nur wenige Teams realisiert haben und nur mit einer strategischen Ausrichtung und einem langen Atem realisiert werden kann.