Die Lieferkette als Teil des Systems Engineering
Die Corona-Pandemie hat viele Ineffizienzen in Lieferketten sichtbar gemacht. Der Mangel an Toilettenpapier im Frühjahr 2020 ist ein Beispiel dafür, kann jedoch auch auf teilweise irrationeles Verhalten der Verbraucher zurückgeführt werden. Für das Systems Engineering interessanter ist der aktuelle Engpass bei Halbleitern.
Da laut ISO 15288 die Lieferkette Teil des Systems Engineering ist, handelt es sich hier um ein für uns relevantes und aktuelles Thema.
Lieferkette in ISO 15288
Zwei der „Systems Lifecycle Processes“ der ISO 15288 beschäftigen sich explizit mit Lieferketten (ich beziehe mich auf ISO 15288:2015). Das sind:
- Acquisition Process (Claus 6.1.1) – dies sind die Prozesse des Konsumenten, der Produkte und Dienstleistungen von Zulieferern verwertet.
- Supply Process (Clause 6.1.2) – dies sind die Prozesse des Lieferanten, der Produkte und Dienstleistungen für einen Nutzer zur Verfügung stellt.
Beide Rollen, Zulieferer und Nutzer, können natürlich auch zur selben Organisation gehören, was die Prozesse in der Regel vereinfacht. Gerade bei komplexen Produkten ist es normal, dass Firmen sowohl als Lieferant als auch Nutzer agieren.
Risiken
Gerade in der Automobilindustrie herrscht ein enormer Kostendruck. Die sich daraus entwickelten Strukturen verursachen mehrere Risiken. Ein bekanntes Beispiel ist Just-in-Time-Delivery: Um die Lagerhaltung zu minimieren, werden Komponenten sehr kurzfristig und in kleinen Mengen ausgeliefert. Die OEMs beherrschen dies und Just-in-Time verursacht aktuell auch keine größeren Probleme.
Problematischer ist eher die kleine Anzahl von Lieferanten für bestimmte Bauteile. Wenn zum Beispiel nur ein einziger Lieferant ein bestimmtes Steuergerät produziert, dann kann dies bei einem Produktionsausfall katastrophale Folgen für den OEM haben.
Die Risiken der Lieferkette sind: (1) Kleine Anzahl von Lieferanten für ein bestimmtes Bauteil; (2) Große Anzahl von Lieferanten; (3) Tief verschachtelte Lieferketten.
Ein weiteres Risiko ist eine große Anzahl von Lieferanten für das Produkt. Kombiniert mit dem vorherigen Punkt erhöht sich dadurch das Risiko für den OEM erheblich: Je mehr Zulieferer, desto höher das Risiko, dass von diesen einer ausfällt. Wenn es keinen alternativen Zulieferer für das betroffene Bauteil gibt, kann dies die Produktion des OEM lahmlegen.
Ebenfalls problematisch sind tief verschachtelten Lieferketten. Wenn ein Zulieferer auch wieder auf eine große Anzahl von direkten oder indirekten Lieferanten angewiesen ist, erhöht sich das Ausfallrisiko noch weiter. Schlimmer: Wenn unser OEM für ein Bauteil mehrere Lieferanten hat, dann scheint dies das Risiko zu entschärfen. Wenn diese Lieferanten jedoch die selben Unterlieferanten nutzen, dann sind bei einem Ausfall des Unterlieferanten beide Lieferanten betroffen.
Was tun?
Grundsätzlich geht die ISO 15288 auch auf mögliche Risiken bezüglich der Lieferketten ein. Allerdings beschreibt der Standard (aus gutem Grund) lediglich was gemacht werden sollte, nicht wie. Trotzdem lohnt es sich gerade jetzt, nochmal den Standard im Licht der aktuellen Situation zu lesen und bestehende Prozesse anzupassen.
Wichtig ist insbesondere eine regelmäßige Risikoanalyse – dies sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Durch die steigende Produktkomplexität ist es jedoch wichtiger denn je, nicht beim Lieferanten aufzuhören, sondern die auch die weiteren Glieder in der Lieferkette mit einzubeziehen.
Weitere Maßnahmen sind eher strategischer Natur und können deswegen nicht „mal eben“ durchgeführt werden. Dazu gehört zum Beispiel die wichtige Entscheidung, was „in-House“ gemacht wird und was nicht. Manche Probleme können auch an einer nicht mehr zeitgemäßen Architektur liegen. Aber eine Anpassung der Architektur ist ein enorm großes Unterfangen. Einer der Gründe, warum sich viele OEMs die Architekturen von Tesla sehr genau anschauen.