Systems Engineering Trends

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Daimler wird zur Softwarefirma

Kürzlich hatte Siegmar Haasis, CIO von Mercedes Benz, einen Auftritt auf der IBM Think 2019, wo er seine Vision für die Automobilindustrie vorstellte (Video am Ende dieses Artikels). Davon gibt es hier eine kurze Zusammenfassung. Was hat sich in den letzten drei Jahren getan, seit Haasis 2016 auf der ReConf seine Vision präsentierte?

Vor drei Jahren hielt Haasis eine Keynote zum Thema MBSE bei Daimler, in der relativ moderate Ziele abgesteckt wurden. Dabei ging es primär um standardisiertes Arbeiten, Modellierung und Kultur. In diesem Vortrag schärft er die Vision und geht auf die Umsetzung in Zusammenarbeit mit IBM ein.

Vom Produkt zum Service

Produkts sind Out, Dienste sind In, auch bei Daimler, welches sich nun als Mobility-Provider sieht und dies auch schon seit über zehn Jahren verfolgt. Zum Beispiel experimentiert Daimler seit 2009 mit dem Carsharing-Dienst Car2go.

Diese Transformation ist technologiegetrieben, und Hassis beschreibt Daimler als eine Organisation, die eine Softwarefirma werden möchte.

We are pushing to become a – let’s call it – Software company

Siegmar Haasis, CIO Daimler

Von Car zu CASE

Seit über 100 Jahren baut Daimler Autos, doch nun ist die Zeit gekommen für CASE: Connected, Autonomous, Shared, Electric.

Connected – Bei der Verbindung (Connected) geht es sowohl um die Verbindung zum Menschen, als auch zu anderen Maschinen (IoT).

Autonomous – Bei diesem Thema erläuterte Haasis die Klassifizierung (Level 1-5) und stellte ein Pilotprojekt für autonome Taxis vor, welches in Zusammenarbeit mit Bosch in der San Francisco Bay Area durchgeführt wird.

Shared & Services – Hier wurden entsprechende Dienste aufgezählt, wie Moovel und MyTaxi, als auch das Joint Venture mit BMW, welches gerade Car2go mit DriveNow zusammenführt.

Electric – Hierzu hat Mercedes eine neue Marke eingeführt, EQ. Das erste Modell soll noch dieses Jahr auf den Markt kommen.

Transformation der Entwicklung

Es gibt klare quantitative Richtlinien für die Transformation:

30… 12… 1… Ready!

Konkret bedeuten diese Zahlen: 30% Wiederverwendung von Hardware, konkret mit Hilfe von Frontloading so viel Informationen wie möglich frühzeitig in den Entwicklungsprozess einfließen zu lassen. Ich fand etwas überraschend, dass hier die Wiederverwendung von Software oder Anforderungen nicht erwähnt wurden.

Weiterhin soll die Entwicklung um 12 Monate beschleunigt werden. Da es sich hier um eine absolute Zeitangabe handelt ist es unklar, worauf sich dieses Jahr bezieht. Vermutlich auf eine komplette Fahrzeugentwicklung, die typischerweise vier Jahre dauert, also um 25% auf drei Jahre verkürzt werden soll.

Und die Eins bedeutet, dass die Digitalisierung erst dann begonnen wird, wenn diese zu einem der drei Dimensionen Kosten, Zeit oder Qualität beiträgt.

Technologietrends

Das Fundament stellen Daten dar, die entsprechend zugänglich gemacht werden müssen. Haasis sieht dort vier Standbeine, nämlich:

  • Digital Twin – wie bereits in der Luftfahrt praktiziert, soll auch bei Daimler eine vollständige Digitale Repräsentation des Produkts eingeführt werden, die den gesamten Produktlebenszyklus begleitet.
  • Artificial Intelligence – dies sieht Haasis nicht als Baublock, sondern etwas, was in den Entwicklungsprozess eingebettet werden muss.
  • Virtual & Augmented Reality – Hier sieht Haasis durch die Bereitstellung aktueller und kontextrelevanter Daten eine Wiederbelebung dieser bereits seit Jahrzehnten etablierten Technologie.
  • Systems Engineering – Dies sieht er als Lösung, um aus den traditionellen Silos auszubrechen. Ganz im Sinne von diesem Blog.

Daimler und IBM

Da dieser Vortrag auf einer IBM-Konferenz gehalten wurde, ging es natürlich auch um die Zusammenarbeit dieser zwei Konzerne, die schon Jahrzehnte besteht – schließlich war die deutsche Automobilindustrie schon frühzeitig beim Anforderungsmanagement dabei, welches bis vor einigen Jahren von IBM Rational DOORS dominiert wurde.

Hier sieht Haasis modellbasiertes Systems Engineering (MBSE) als den nächsten Schritt der Weiterentwicklung und betont auch die Zusammenarbeit mit IBM. Daraufhin darf er vier Wünsche zum MBSE äußern. (Sind es im Märchen nicht immer drei Wünsche?) Diese äußerte er IBM-spezifisch konkret auf die Jazz-Platform bezogen:

  • User Experience – Diese muss noch deutlich verbessert werden
  • Unterstützung für den Austausch von Modellen, und zwar intern (Jazz) als auch extern (ReqIF)
  • Eine einzige API, damit die Daten zugänglich bleiben und auch wirklich vernetzt werden können
  • Eine Automotive-spezifische Lösung

Beim zweiten und dritten Punkt war ich etwas verwundert: Jazz, mit OSLC, ist doch eigentlich für Interoperabilität ausgelegt. Ist dies nicht genug, oder hakt es? Weiterhin wurde ReqIF in enger Zusammenarbeit zwischen IBM und Daimler entwickelt und sollte eigentlich lange gesetzt sein und funktionieren. Falls da jemand mehr weiß, gern in den Kommentaren unten Erfahrungen teilen!

Fazit

Das hier Vorgestellte ist nicht neu, und das hat auch niemand erwartet. Dennoch ist es eine große Herausforderung, ein weit über hundert Jahre altes Unternehmen zu transformieren. Dafür ist eine strategische Ausrichtung notwendig, und dass Daimler diese hat, ist aus diesem Vortrag ersichtlich. Das ist auch notwendig, denn in vielen dieser Bereiche sind kleine Mitbewerber längst zu großen Konkurrenten geworden: Egal, ob es autonomes Fahren ist (Waymo), elektrische Autos (Tesla) oder Mobilitätsdienste (Uber).

Ob IBM dafür der richtige Partner ist wird sich zeigen. Die Jazz-Plattform hatte vor über zehn Jahren einen eher schwachen Start, soll sich aber inzwischen ganz gut gemausert haben. Ich werde interessiert verfolgen, ob IBM die Wunschliste umsetzen wird.

Photo by Laurie Decroux on Unsplash

Michael Jastram

Creator and Author of SE-Trends