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Die 10 größten Illusionen im Systems Engineering

Als sich in der Mitte des letzten Jahrhunderts das Systems Engineering etablierte, basierte es auf einer Reihe von Annahmen. Doch diese Annahmen wurden nicht systematisch erfasst, sondern basierten auf dem Damaligen Umfeld, insbesondere in im Kontext von Luft- und Raumfahrt- und Verteidigungsprogrammen. Das entspricht nicht dem heutigen Umfeld.

Michael J. Pennock und John P. Wade vom Stevens Institute of Technology haben diesen Sachverhalt untersucht und haben eine Liste der 10 größten Illusionen im Systems Engineering erstellt, die auf diesem Sachverhalt basieren. Damit ist es natürlich nicht getan: Die Autoren stellen auch einen Forschungsplan auf, mit dem diese Defizite entschärft werden sollen.

Im Folgenden nun die Liste der 10 Illusionen.

Die Forschungsarbeit

Die Autoren haben Ihre Arbeit also Open Access-Artikel veröffentlicht. Damit ist der der freie Zugang zu wissenschaftlicher Literatur gemeint. Da ich selbst viel im Open Source bzw. Open Access-Umfeld veröffentliche, freut mich das. Das 8-seitige Paper kann hier heruntergeladen werden.

Einer der ersten Artikel bei SE-Trends hatte ich übrigens im Dezember 2015 über das Stevens Institute geschrieben.

10 Illusionen im Systems Engineering

Kommen wir zum eigentlichen Thema, den 10 Illusionen im Systems Engineering (SE). Die Autoren diskutieren zunächst die Historie des Systems Engineering. Auch auf die mehr oder weniger oft diskutierten Identitätskrisen im Systems Engineering gehen die Autoren ein.

Systems Engineering hat eine klare Aufgabe, ein klares Ziel. Doch es ist leicht, dieses aus den Augen zu verlieren und es als Selbstzweck zu sehen. Zweifellos ist dies die Ursache für einige der Illusionen. Hinzu kommt, dass unter bestimmten Umständen klassisches (!) Systems Engineering nicht mehr funktioniert. Manche Ausübenden akzeptieren die Ansätze, die funktionieren, nicht als „echtes“ Systems Engineering. Agile Ansätze sind ein gutes Beispiel dafür.

1. Illusion: Systems Engineering ist absolut

Traditionelles SE geht davon aus, dass es eine „richtige“, bzw. optimale Lösung gibt. Die Aufgabe besteht in Wirklichkeit in der Optimierung und der Anwendung von Best Practices, anstatt ein subjektiver und kontextabhängiger Prozess zu sein. Dies ist eine der Hauptannahmen, die die traditionelle Systemtechnik oft vom Systemdenken trennt, das die weiche und oft nicht schlüssige Natur von Systemen berücksichtigt.

2. Illusion: Systems Engineering ist eindeutig

Systems Engineering geht von der Illusion aus, dass es möglich ist, eindeutige Anforderungen in menschlicher Sprache zu formulieren. Natürlich lehrt uns die Erfahrung, dass Menschen eine Anforderung durchaus unterschiedlich interpretieren können. Erschwerend kommt hinzu, dass wir erwarten, dass diese Anforderungen in weitere, untergeordnete Anforderungen zerlegbar sind.

3. Illusion: Systems Engineering ist sequentiell

Traditionelles SE erfordert ein grundsätzlich sequentielles Vorgehen bei der Entwicklung. Das bedeutet nicht, dass es keinerlei Rückkopplungsschleifen gibt, aber im Allgemeinen ist das zu entwickelnde System so beschaffen, dass seine Entwicklung zeitlich zerlegt und sequenziell durchgeführt werden kann. Dies macht es schwierig, Systeme zu entwickeln, die anpassungsfähig sein müssen.

4. Illusion: Akteure im Systems Engineering handeln rational

Wir gehen oft davon aus, dass die Entscheidungsfindung im Ingenieurwesen derjenigen von Wirtschaftsakteuren ähnelt: Ingenieure und Manager sind rationale Entscheidungsträger, die Zugang zu vollständigen und perfekten Informationen haben. Im wirklichen Leben stehen Systemingenieure unter Termin- und politischem Druck sowie unter Ressourcenbeschränkungen. Infolgedessen verfügen sie oft nicht über die Informationen, die sie benötigen, um fundierte oder „optimale“ Entscheidungen zu treffen. Bei solchen Unklarheiten kann die scheinbar beste Option darin bestehen, die Dinge so zu tun, wie sie schon immer getan wurden. Im Falle komplexer Systeme oder Systeme von Systemen kann dies jedoch genau der falsche Weg sein.

5. Illusion: Systems Engineering führt zu minimalistischen, lose gekoppelten Systemen

Der Schlüssel zum Systems Engineering ist die Fähigkeit, zu teilen und zu herrschen. Aber damit dies funktioniert, muss das betreffende System in einigermaßen lose gekoppelte Teilsysteme zerlegbar sein. Mit zunehmender Komplexität wird der Minimalismus problematisch, da die Teilsysteme immer künstlicher werden und vom technischen Standpunkt aus gesehen potenziell kontraproduktiv sind, da kritische Wechselwirkungen nicht ausreichend berücksichtigt oder nicht erkannt werden können.

6. Illusion: Systems Engineering wird zentral gesteuert

Die Kontrolle über die Entwicklungsorganisation(en) ist zentralisiert und absolut. Traditionell wurde dies über Verträge und ähnliche Mechanismen geregelt. Bei „Systems of Systems“ gibt es jedoch oft keine expliziten Verträge. Infolgedessen ist es für den Systems Engineer schwieriger, die technische Kontrolle zu behalten. Teilsysteme können sich unerwartet ändern, was das zu Problemen und Ausfällen führen kann.

7. Illusion: Systeme sind unveränderlich

Traditionelles SE geht davon aus, dass sich der Systembedarf und der Systemkontext im Wesentlichen nicht ändert. In der realen Welt verhalten sich Konkurrenten natürlich unerwartet, neue Technologien werden eingeführt, Zulieferer geben ihr Geschäft auf, usw. Da sich der soziale und technologische Wandel mit der Zeit beschleunigt, können statische Lösungen veraltet sein, bevor sie zum Einsatz kommen.

8. Illusion: Systems Engineering ist Mechanistisch

Traditionelles Systems Engineering ist blind für das menschliche Element, einschließlich Kultur und Geschichte. Es wird implizit angenommen, dass diese Faktoren die Ergebnisse nicht wesentlich beeinflussen. Normen und Werte können sich jedoch darauf auswirken, welche potenziellen Lösungen in Betracht gezogen werden und wie ein Systementwicklungsprogramm ausgeführt wird. Die potenziell nachteiligen Auswirkungen, die eine ungeeignete Organisationsstruktur auf die Systementwicklung haben kann, sind allgemein bekannt.

9. Illusion: Systems Engineering ist deterministisch

Traditionelles Systems Engineering geht davon aus, dass das Systemverhalten deterministisch ist. Die Eingabe „A“ in Kombination mit dem Zustand „B“ ergibt immer die Ausgabe „C“ (oder erfasst zumindest die Wahrscheinlichkeit von C mit einer genau definierten Wahrscheinlichkeitsverteilung). Diese Sichtweise wird für adaptive Systeme problematisch, bei denen eine gewisse Fehlertoleranz im Austausch für die Vorteile der Anpassungsfähigkeit erforderlich ist, Stichwort KI.

10. Illusion: Systems Engineering ist kontextfrei

Bewährte Verfahren sind universell und variieren nicht je nach Kontext. Mit anderen Worten: Wenn sich ein bestimmter Systems-Engineering-Ansatz in der Luft- und Raumfahrtindustrie bewährt hat, muss er auch in der IT-Branche gut funktionieren. Von wegen! Diese Sichtweise vernachlässigt die Bedeutung des Maßschneiderns. Verschiedene Aspekte des Systems-Engineering-Prozesses können für unterschiedliche Systemtypen und Branchen mehr oder weniger wichtig sein.

Wie mit den Illusionen umgehen?

Pennock und John Wade haben, basierend auf diesen Illusionen, einen Forschungsplan erstellt (im Paper nachzulesen, Kapitel 5, Research Agenda). Das mag ja im akademischen Umfeld schön und gut sein, doch wie hilft uns das in der Praxis?

Das ist gar nicht so schwer: Das wichtigste ist, diese Illusionen überhaupt erst einmal zu erkennen. Denn wenn wir uns dieser Bewusst sind und im Projekt ein Bewusstsein dafür geschaffen haben, dann sind wir dem Ziel schon ein gutes Stück näher.

Photo by 愚木混株 cdd20 on Unsplash

Michael Jastram

Creator and Author of SE-Trends